Harald Große zeigt die Zukunft von gestern

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Halle/MZ. – „Ausstellungen sind eigentlich nicht mein Ding“, sagt Gerald Große. Aber als Claudia Hein, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Germanistischen Instituts der Universität Halle, anfragte, ob er sich vorstellen könne, im Rahmen eines literarischen Projekts eine Auswahl seiner Fotos, mit denen er den Aufbau von Halle-Neustadt dokumentierte, in Halle zu zeigen, musste er einfach zusagen: „Wir konnten – im tiefsten Herzen uralte Neustädter – das Vorhaben nicht ablehnen“, so der 1942 in Dresden geborene, zwischen 1968 und 2004 in Halle heimische und heute in Wien lebende Fotograf. Also hat er sein Foto-Archiv durchforstet und auch neue Papier-Abzüge von alten Negativen angefertigt.

„Zeitenbilder“ heißt die Retrospektive, die, kuratiert von Ulrich Zeiner, im Literaturhaus Halle zu einer Zeitreise in die Zukunft von gestern einlädt: zurück in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, als man westlich des 1.200-jährigen Halle eine neue Stadt aus dem Boden stampfte, um dort dringend benötigten Wohnraum für viele Tausende Arbeiter der Leuna- und Buna-Werke zu schaffen. Den Prozess, wie auf den Passendorfer Wiesen die Wohnblöcke in die Höhe wuchsen, wollte Große, damals noch Student der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, unbedingt fotografisch begleiten.

Schriftsteller als Nachbar

Geschah das im Auftrag? „Einen gesellschaftlichen Auftrag hatte ich nicht, aber einen inneren“, sagt Große, der ab 1968 in Halle-Neustadt lebte: „Das Glück unseres Lebens bis 2004!“ So mögen auch viele andere Zeitgenossen empfunden haben, die sich vor gut einem halben Jahrhundert über Wohnungen in Ha-Neu freuten, die über ein Bad, fließend Warmwasser und Fernheizung verfügten. Alles das, was Bewohner von Altbauten – Toilette auf halber Treppe! – meist entbehren mussten. Von einer Durchreiche, die in Ha-Neu-Wohnungen Küche und Wohnraum verband, ganz zu schweigen.

Zu den Block-Nachbarn von Gerald Große gehörte einst auch der Schriftsteller Werner Bräunig (1934-1976). Den hat er 1969 an einem Regentag im Freien fotografiert: Eine Ledermütze auf dem Kopf und eine Zigarette in der Hand blickt Bräunig, der mit nur 42 Jahren starb, skeptisch in die Kamera. Wozu er allen Grund hatte: Denn nicht zuletzt die von der SED im Jahr 1965 losgetretene Kampagne gegen seinen erst 2007 veröffentlichten Roman „Rummelplatz“ – von dem Erich Honecker sagte, dass dieses Werk „mit unserem sozialistischen Lebensgefühl nichts gemein habe“ – trieb Bräunig in die Alkoholsucht.

Wie dieser, so hält auch jener Bauarbeiter eine Zigarette in der Hand, der, einen Kasten Bier zu seinen Füßen, dabei ist, in Bräunigs Erzählungsband „Gewöhnliche Leute“ zu blättern. Überhaupt sind die Erbauer auf vielen Ha-Neu-Fotos präsent – und natürlich auch die Gebäude, die sie errichteten. Dass die am Aufbau der sozialistischen Musterstadt als Maurer und Drahtflechter, Großgerätefahrer und Bauleiter Beteiligten nicht gewohnt waren, buchstäblich im Fokus zu stehen, zeigt die Aufnahme einer Brigade: Während der Brigadier die plötzliche mediale Aufmerksamkeit mit Humor zu überspielen versucht, blicken seine Kollegen eher unsicher in Richtung des Fotografen. Richard Paulick (1903-1979) hingegen, der Chefarchitekt von Halle-Neustadt, hatte nicht nur einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, sondern auch den Schalk im Blick, als ihn Große 1967 porträtierte.

Fuhrpark aus Kinderwagen

Aber nicht nur die Errichtung der Neustadt, sondern auch das Leben in ihr fixierte der Lichtbildner. So sieht man etwa einen Mann mit einem Einkaufsbeutel in der Hand auf einem von Baufahrzeugen aufgeweichten Weg nach Hause stolpern; einen ganzen Fuhrpark von Kinderwagen, die vor einer Kaufhalle geparkt sind; Nachbarn beim Subbotnik und natürlich auch Massenszenen wie etwa eine Lenin-Ehrung oder, dies eine der spätesten Aufnahmen, den Demonstrationszug am 1. Mai 1989.

Und wie war die Resonanz auf die Fotos? „Das Interesse an meinen Bildern war groß. Man erwartete immer wieder neue Sichten und Ausdeutungen“, erinnert sich Große. Allerdings musste er feststellen, dass das Interesse an Ha-Neu in den späten 1970er Jahren schwand, und damit das an seinen Fotos. Vielleicht war das auch jene Zeit, in der der DDR-Volksmund begann, für Neubauwohnungen verballhornende Begriffe wie „Arbeiterschließfach“ oder „Wohnklo mit Einbauküche“ zu ersinnen.

Warten auf den Einbau: „Das Besondere: Eine Badewanne für jede Wohnung“ hat Gerald Große dieses Foto betitelt, das er 1972 aufgenommen hat.
Warten auf den Einbau: „Das Besondere: Eine Badewanne für jede Wohnung“ hat Gerald Große dieses Foto betitelt, das er 1972 aufgenommen hat.

(Foto: Gerald Große)

Wie auch immer: Nach einem Gang durch die zeithistorisch bedeutende Ausstellung wird klar, dass Gerald Großes einzigartige Langzeitdokumentation über die Stadtzukunft von gestern dauerhaft in Halle bleiben müsste.

Die Ausstellung im Literaturhaus Halle, Bernburger Straße 8, läuft bis zum 16. Februar, ist an Veranstaltungstagen ab 18 Uhr geöffnet und nach Voranmeldung: [email protected]. Am 24. Januar um 19 Uhr sprechen Studierende des Instituts für Germanistik unter dem Titel „(Vergangene) Zukünfte“ im Literaturhaus über Halle-Neustadt. Literarische Texte zum Thema liest Andreas Range.

Gemeinsame Sache: Ha-Neuer pflanzen Bäume vor ihrem Wohnblock.
Gemeinsame Sache: Ha-Neuer pflanzen Bäume vor ihrem Wohnblock.

(Foto: Gerald Große)

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