Kinostar Hannah Herzsprung sagt: Es gibt nur den Moment

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Halle/MZ. – Eben noch beim Radio, jetzt das Interview und gleich ins Kino: Hannah Herzsprung ist vollauf beschäftigt mit ihrem neuen Film „15 Jahre“. Ihre wohl radikalste Kinofigur kehrt nach eineinhalb Jahrzehnten zu uns zurück. Mit Stefan Stosch spricht sie über Körpereinsatz bei Dreharbeiten und davor, Klavierspiel und das Training für die Rolle.

Frau Herzsprung, wenn Sie nicht Schauspielerin geworden wären, was dann?

Schauspielerin! Na gut, als Kind wollte ich auch mal Tierärztin werden, ebenso Anwältin, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, und ich wollte auch mal zum Zirkus. Zwischendurch habe ich mich für den Beruf der Skilehrerin begeistert, weil ich so gern Ski gefahren bin. Und nach einem tollen Sommerurlaub sah ich meine Zukunft als Club-Animateurin am Swimmingpool. Kurz und gut: Ich bin immer ziemlich neugierig durch die Welt gestapft und konnte mich anscheinend für viele Berufe erwärmen. Das Tolle an der Schauspielerei ist deshalb, dass ich nun tatsächlich in viele hineinschnuppern kann. Jede Rolle ist in gewisser Weise ein kleines Praktikum.

Hingen an den Wänden Ihres Kinderzimmers Poster von Schauspielern oder Schauspielerinnen?

Überhaupt nicht – und das, obwohl ja auch mein Vater Schauspieler ist. Als Kind dachte ich allerdings lange Zeit, er sei Gärtner. Nach einem langen Drehtag ist er sofort raus und hat in der Natur gewerkelt. Über seinen Beruf hat er nicht so viel gesprochen, schon gar nicht über aktuelle Projekte. Am Abendbrottisch bei uns zu Hause gab es andere Themen.

Wie haben Sie dann Feuer für die Schauspielerei gefangen?

Zunächst mal war meine Neugierde für andere Menschen groß. Leidenschaftlich gern beobachte ich bis heute Menschen in der U-Bahn. Ich hänge förmlich an den Lippen der Passagiere auf den Nachbarsitzen und denke mir Geschichten zu ihrem Leben aus. Konkreter wurde es mit meinem Berufswunsch, als eine Filmproduktion das Bauernhaus mietete, in dem wir wohnten. So etwas Aufregendes wollte ich auch mal erleben! Ich habe meinen Vater gefragt, ob auch mal eine Rolle für mich drin wäre. Er hat gesagt: Nein! Du gehst zur Schule, machst danach dein Abitur, und du studierst. Und dann kannst du dir überlegen, ob du Schauspielerin werden willst.

Haben Sie irgendwann von der Rolle einer Frau geträumt, die gegen Glaswände springt und mit Handschellen Klavier spielt wie in Ihrem ersten Kinofilm?

Nee, so eine Rolle wie die Jenny aus „Vier Minuten“ konnte ich mir nicht vorstellen: Eine Frau sitzt im Gefängnis wegen eines Mordes, den sie nicht begangen hat. Als ich die Rolle annahm, war nicht einmal klar, ob der Film überhaupt gezeigt wird. Anfangs hatten wir keinen Verleih. Viele Festivals in Deutschland lehnten „Vier Minuten“ ab. Das änderte sich erst durch die Auszeichnung als bester Film im Wettbewerb von Shanghai. Und dann lief der Film 2006 beim Festival in Hof. Genau da hat sich nun ein Kreis geschlossen: Dort haben wir im Herbst das Kinodrama „15 Jahre“ gezeigt, in dem Regisseur Chris Kraus das Leben Jennys eineinhalb Jahrzehnte später weitererzählt.

Noch mal kurz zurück zu „Vier Minuten“: Mehr als 1.000 Kandidatinnen hatten sich damals für den Film beworben. Nach Worten Ihres Regisseurs waren Sie aber unter allen die einzige, die buchstäblich tat, was Sie in einer Castingszene spielen sollten: Sie haben ein Blatt Papier komplett vertilgt. Warum waren Sie so scharf auf diesen Film?

Weil die Figur so wunderbar war! Ich habe Chris damals gefragt, warum er mich besetzt hat. Er hat geantwortet: Keine andere wollte die Rolle so wie du.

Eineinhalb Jahrzehnte später taucht derselbe Regisseur Chris Kraus bei Ihnen auf und fragt Sie, ob Sie noch mal die Jenny spielen wollen?

Tatsächlich habe ich sofort Ja gesagt, als Chris mich gefragt hat. Ich wollte unbedingt wieder mit ihm arbeiten. Durch Corona hat sich die Produktion dann verzögert. Auch die Finanzierung war schwierig. Erst nach meiner Zusage wurde mir wirklich bewusst, was da auf mich zukommt. Ich meine, wo gibt es so etwas schon, dass eine Figur nach 15 Jahren auf die Leinwand zurückkehrt? Das ist ja keine Fernsehserie, in der man über die Jahre mit der Figur altert. Nur mal zum Vergleich: In der Serie „Babylon Berlin“ bin ich erst vergleichsweise bescheidene sieben Jahre dabei.

Was bedeutete es für Sie, noch einmal in Jennys tätowierte Haut zu schlüpfen?

Ursprünglich hatte mich die Kraft dieser Figur fasziniert, die jederzeit in Aggression umschlägt. Jenny war impulsgesteuert, aggressiv, gewaltbereit. Das konnte und wollte ich nicht einfach noch einmal spielen. Für mich war wichtig, dass die ältere Jenny nun auch eine gewisse Weichheit offenbart, die damals nur in ihr schlummerte. Jenny möchte vergeben, vor allem sich selbst. Und dann begegnet sie wieder jenem Mann, an dessen Stelle sie ins Gefängnis gegangen war. Die Frage ist: Kehren damit auch wieder ihre Wut und ihr Zorn zurück? Im Mai vorigen Jahres waren wir fertig mit dem Film, und ich war genauso glücklich wie erschöpft.

Was ist mit Jenny in dem 15 Jahren Zwischenzeit passiert?

Wir zeichnen das Psychogramm einer Frau, die 15 Jahre lang unschuldig im Gefängnis verbracht hat. Und dann muss sie entscheiden, ob sie sich wieder nach draußen traut. Sie muss sich im wirklichen Leben ihren Weg suchen. Es gibt da ein starkes Lied, das sie mit ihrem syrischen Musikerfreund im Film singt: „Es gibt kein Happy End, es gibt nur den Moment.“ Das sagt schon viel über Jennys Gefühle.

Wie haben Sie recherchiert für Jenny? Haben Sie Kontakt zu Gefangenen gesucht?

Das ging wegen Corona nicht. Ich habe aber viel gelesen und auch mit Gefängnistherapeuten gesprochen. Trotzdem ist es mir nicht möglich, zu ergründen, was diese Frauen durchmachen. Ich habe mich deshalb ganz auf Jenny konzentriert – war mir aber der Verantwortung durchaus bewusst für Menschen, die ihr Schicksal mit meiner Figur verknüpfen.

Konnten Sie noch so gut Klavier spielen wie in „Vier Minuten“?

Tja, wenn ich 2006 gewusst hätte, dass die Geschichte weitergeht, hätte ich nie aufgehört zu üben. Das habe ich aber leider getan. Mein Leben hat ja nicht pausiert. Mit Alain Gsponers „Das wahre Leben“ kam sogleich der nächste tolle Film auf mich zu. Ich habe es bald nicht mehr geschafft, mich ans Klavier zu setzen.

Das heißt, Sie mussten nun Ihre musikalischen Hausaufgaben erledigen?

Ich habe bestimmt schon zwei Jahre vor dem Drehen angefangen am Klavier, die letzten Monate ganz intensiv. Der Klavierlehrer gehörte zum Team. Es war für mich einfacher als beim ersten Mal. Beim Casting zu „Vier Minuten“ hatte ich ja behauptet, ich könne Klavier spielen, was gar nicht stimmte. Dieses Mal war das Training aber noch umfangreicher: Ich hatte auch noch zwei Gesangslehrerinnen.

Wie weit würden Sie denn für eine Rolle gehen, die Ihnen wirklich wichtig ist?

Ziemlich weit. Ursprünglich hatten wir überlegt, dass Jenny im Gefängnis an Gewicht zugelegt hat – so ähnlich wie Charlize Theron in „Monster“. Ich hatte sogar schon drei Wochen lang angefangen, ausgiebig zu essen. Ein Coach sollte mich ernährungstechnisch auf den Kraftakt vorbereiten. Wir haben dann aber schnell gemerkt, dass das nicht funktioniert. Unsere Jenny hatte sich im Gefängnis ganz auf ihren Körper konzentriert. In ihrer Zelle hat sie unendlich viel trainiert, auch um ihre Psyche in den Griff zu bekommen.

Was hieß das für Sie?

Ich habe ebenfalls sieben Monate lang hart gearbeitet. Körperlich war ich wohl noch nie so stark wie bei diesen Dreharbeiten. Das hat mir geholfen, die anstrengende Zeit gut zu überstehen. Jennys energiegeladene Haltung musste ich gar nicht mehr spielen. Die hatte ich sozusagen in mir.

Es heißt, Schauspielerei habe viel mit Eitelkeit zu tun. Mussten Sie diese für die Rolle ablegen?

Wenn ich ein Drehbuch lese, überlege ich mir nicht, wie mein Charakter wohl aussieht oder rüberkommt. Ich schaue sozusagen von innen auf meine Figur. Jetzt bekomme ich viel zu hören: Krass, wie du dich traust, so hässlich zu sein. Aber ich weiß gar nicht, was hässlich ist. Wer definiert das? Zudem sind Filme ja auch Teamarbeit. Kostüm und Maske bestimmen die Figur mit, auch alle anderen bringen ihre eigenen Ideen ein. Das Uneitle besteht für mich eher darin, dass ich vor der Kamera so echt und authentisch bin, wie es nur geht.

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