Aus dem Leben eines notorischen Aufschiebers

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Halle/MZ. – Was ist schwieriger: Anfangen oder aufhören? Wer bei dieser Frage verdutzt bemerkt, dass es da draußen auch Menschen geben soll, die Letzteres nennen, der wird den Ich-Erzähler in Nele Pollatscheks neuem Roman „Kleine Probleme“ lieben. Anfangen, das ist bei Lars das Problem. Und dann dranbleiben, etwas zu Ende bringen.

Lars ist 49, hat Frau und zwei Kinder, war mal beim Fernsehen, will eigentlich Schriftsteller sein – aber versinkt dann doch wieder im Alltag. Der innere Schweinehund, er macht sich bei Lars ganz besonders gern bemerkbar.

„Wenn der Tod käme, würde ich sagen, es ist mir wirklich unangenehm, aber ich muss leider noch kurz eine Kleinigkeit erledigen“, so beschreibt es der Ich-Erzähler selbst: „Ich muss noch sechzehn Tage Abwasch machen und ,Neuneinhalb Wochen’ zur Videothek zurückbringen, die erste Steuerabmahnung muss ich noch bezahlen und die zweite, die dritte, ich muss noch die Kinderzimmer streichen, erst rosa und hellblau, dann sonnengelb und grün mit Lianen, dann doch wieder weiß mit einer flaschengrünen Akzentwand ,wie auf Insta’, ich muss mich noch bei allen melden, zu denen ich mal ,ich melde mich dann’ gesagt habe …“

Verloren in Details

Nach Sätzen wie diesem, der noch ein paar Zeilen länger ist, ahnt der halbwegs organisierte Leser längst nicht nur, was Lars’ Problem ist, sondern auch, was die Lösung sein könnte. Nicht so viel durchdenken, ablenken – sondern machen! Aber so einfach ist das bei ihm nicht. Er verliert sich ständig in Details, so wie man nur kurz bei Google etwas suchen wollte und am Ende ganz woanders landet, weil man die Fragen zum Thema so spannend fand und nach und nach angeklickt hat.

Der Endvierziger mit den vielen Träumen und Plänen und Ideen schrammt ständig knapp an der selbst verschuldeten Alltagskatastrophe vorbei. Kind nicht rechtzeitig abgeholt, Tank leer, Abgabetermin verpasst… Dabei hatte er sich doch gerade noch so hoffnungsvoll und stark gefühlt. Aber der Weg von „Ich schaffe das schon“ zu „Ich bin ein kompletter Versager“ ist bei ihm nicht weit.

Es geht so weiter bei Lars, scheint es, immer so weiter. Und dass sich das Thema nicht erschöpft, liegt an den grandiosen Beobachtungen, dem mitreißenden Humor und der Wortgewandtheit von Autorin Nele Pollatschek. An den klugen und gern auch mal ins Philosophische reichenden Gedanken, die sie Lars mitgibt.

Wenn er wieder einmal abschweift, dann hat das etwas Liebenswürdiges. Und wenn er sich dann vornimmt, es endlich hinzubekommen vom Bettaufbauen übers Putzen bis zum Lebenswerk, dann ist das tragisch und komisch zugleich – und immer prächtige Unterhaltung.

Nele Pollatscheks "Kleine Probleme"
Nele Pollatscheks „Kleine Probleme“

(Foto: Galiani Berlin)

Die 1988 in Ost-Berlin geborene Nele Pollatschek hat Englische Literatur und Philosophie unter anderem sieben Jahre lang in Cambridge und Oxford studiert und wurde darin promoviert – und man bildet sich ein, dass die smarten Beschreibungen in ihrem Buch auch dort herrühren. Schließlich gehört es in den Elite-Unis zum guten Ton, nicht nur gebildet, sondern auch geistreich und lustig zu sein.

Wie es dort zugeht, hatte die England-Kennerin anlässlich des Brexit in ihrem Vorgängerwerk „Dear Oxbridge. Liebesbrief an England“ von 2020 eindrücklich beschrieben. Nun also wieder ein Roman. Ihr Debütroman „Das Unglück anderer Leute“ (2016) war mehrfach ausgezeichnet worden.

Wie so viele Menschen will auch Lars in „Kleine Probleme“ die Woche zwischen den Jahren nutzen, um endlich einmal sämtlich Aufgeschobenes abzuarbeiten – „diese schimmernden fünf Tage zwischen den Jahren, in denen das Alte schon zu Boden geröchelt ist und das Neue noch nicht zugeschlagen hat und immer noch alles ganz anders werden kann, nämlich gut.“ Um dann zu merken: „Es war Freitag, der 31. Dezember, und ich musste noch was erledigen. Also alles.“ Ein gelungener Kniff der Autorin ist es, dass sie den Roman nach den Punkten auf Lars’ To-do-Liste in Kapitel gliedert.

Übermächtige To-do-Liste

Natürlich sind es keine „kleinen Probleme“, die Lars so beschäftigen, und auch nur vordergründig diese übermächtige To-do-Liste, die ihn fertigmacht. Es ist die Bilanz, die er am Ende des Jahres zieht – über die vergangenen Wochen, Monate, Jahre. Sein Leben. Die Suche nach Sinn. Und die Entscheidung seiner Frau Johanna, erst einmal Abstand zu wollen.

So amüsant und in Lars’ Eile oft rasant es sich liest – „Kleine Probleme“ ist ein Buch, das immer wieder zeigt: In der Banalität des Alltags steckt viel mehr. Ein kluger Roman über die Schwierigkeit, sein Leben nicht auf morgen zu verschieben. Über die Angst vor Veränderung – und die Kraft, die sie entfalten kann.

Nele Pollatschek liest am 7. März 2024 im Literaturhaus Magdeburg aus ihrem Roman „Kleine Probleme“.

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