Ehrlich statt perfekt: Eltern haben eine wichtige Vorbildfunktion

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Ob es nun um bestimmte Gewohnheiten, Sprache oder den Umgang mit anderen geht: Wie sehr einen die eigene Kindheit prägt, zeigt sich oft noch im Erwachsenenalter. Dass Eltern eine solch wichtige Modellfunktion einnehmen, liegt daran, dass das soziale Miteinander die Grundlage für unsere Entwicklung bildet: „Schon direkt nach der Geburt interagieren wir mit der Umwelt und mit Menschen in unserem Umfeld“, sagt David Weiss, Entwicklungspsychologe am Institut für Psychologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Diese Interaktionen sind entscheidend dafür, um verschiedene Fähigkeiten entwickeln: zum Beispiel Sprache, ein Verständnis für soziale Normen und Verhaltensweisen – aber auch ein Konzept von uns selbst, eine Identität.“ Insbesondere kleine Kinder lernen viel, indem sie andere Menschen nachahmen. Dabei spielen Vorbilder eine sehr große Rolle: „Sie dienen als Orientierungspunkte, an denen wir unser Verhalten ausrichten“, sagt Weiss.

So sind Vorbilder entscheidend für viele Bereiche des Lebens. „Dazu gehören Werte, Überzeugungen, Ideologien und Kultur, genau wie das soziale Verhalten: also wie wir mit anderen Menschen oder Emotionen umgehen, wie wir Beziehungen pflegen“, sagt Weiss. Daneben wirken sich die Vorbilder der Kindheit auch auf die Motivation, Arbeitsmoral oder die Freizeitgestaltung aus.

Mama und Papa als Modell

Anfangs orientieren sich Kinder insbesondere an ihren Eltern: „Sie sind die ersten Bezugspersonen im Leben“, sagt David Weiss. „Sie stehen sozusagen Modell, um zu zeigen, wie wir uns verhalten müssen und wie wir die Welt zu verstehen haben.“ Für Eltern bedeutet das, dass sie – ob willentlich oder nicht – eine große Vorbildfunktion für ihre Kinder einnehmen und zudem das Weltbild ihrer Kinder prägen: „Das geschieht dadurch, dass sie die Einflüsse aus der Umwelt begrenzen. Sie wählen aus, mit welchen Informationen oder Aktivitäten die Kinder in Kontakt kommen und erfüllen dadurch eine Art Gatekeeper-Funktion“, sagt Weiss. Umgekehrt stellt sich damit für Eltern die Frage: Welches Vorbild will ich für meine Kinder abgeben – und wie sehr sollte ich dabei ich selbst sein? Dieses Bewusstsein für die eigene Vorbildfunktion ist schon ein guter erster Schritt, findet der Entwicklungspsychologe Weiss. „Daraufhin können sie kritisch reflektieren, in welchen Punkten sie vielleicht kein ganz so tolles Ideal abgeben. Dann können sie sich selbst fragen, in welchen Bereichen es ihnen sehr, sehr wichtig ist, ein gutes Vorbild zu sein und ob es andere Bereiche gibt, in denen sie ihre Fehler durchaus akzeptieren können.“

Lieber authentisch sein

Bei manchen Dingen kann das zur Gratwanderung werden, etwa wenn Mama oder Papa rauchen oder abends gerne mal weggehen und spät nach Hause kommen. Ein Geheimnis daraus zu machen, ist dennoch nicht die beste Idee: „Ich glaube, man kann nicht alles versuchen zu verstecken“, sagt Weiss. „Kinder verstehen viel mehr als wir denken und müssen natürlich irgendeinen Umgang damit finden.“ Wenn die Eltern nicht auf ihre Laster verzichten wollen, empfiehlt Weiss, damit offen und reflektiert umzugehen, den Kindern zum Beispiel zu sagen: „Ja, rauchen ist ungesund, aber ab und zu mache ich es trotzdem.“ Denn: „Eltern sind eben auch ein besonderes Vorbild für ihre Kinder, wenn es um den Umgang mit Fehlern und Konflikten geht.“

Was Weiss zufolge keinen Sinn ergibt: „Eine Fassade aufrecht zu erhalten und ein Idealvorbild sozusagen vorzuspielen. Das merken Kinder ganz, ganz schnell.“ So ist es für Kinder durchaus wichtig, zu wissen, dass die Eltern auch Fehler haben. Und auch der viel gepriesene Grundsatz „nicht vor den Kindern streiten“ ist mittlerweile überholt. Das zeigte eine 2020 veröffentlichte Studie der Washington State University in Vancouver, geleitet von der Psychologin Sara Waters. Waters fand heraus, dass Kinder schnell erspüren, wenn ihre Eltern gestresst sind und sich das Gefühl auf sie überträgt.

Auch Weiss sagt: „Besser ist es, den Kindern zu zeigen, dass Streit ein ganz normaler Aspekt einer Beziehung ist, dass er dazugehört.“ Allerdings sollten Eltern darauf achten, dass sie richtig streiten: Beleidigungen, Geschrei, Handgreiflichkeiten und persönliche Angriffe sind tabu – stattdessen sollten die Eltern respektvoll und konstruktiv bleiben.

Ich glaube, man kann nicht alles versuchen zu verstecken. Kinder verstehen viel mehr als wir denken.

David Weiss, Entwicklungspsychologe

Je älter die Kinder werden, desto eher sind sie in der Lage, das elterliche Vorbild zu hinterfragen. „Im Jugendalter dienen Vorbilder nicht nur der Nachahmung, sondern sind Grundlage für soziale Vergleiche und dienen auch zur Abgrenzung. Dann ist negatives Verhalten zwar weiterhin ein Risikofaktor, weil die Eltern eben einen sehr starken Einfluss auf ihre Kinder haben“, sagt Weiss. „Aber keinesfalls deterministisch. Kinder sind resilient. Sie können über eine Beeinflussung reflektieren und Dinge bewusst anders machen, als es die Eltern gemacht haben.“

Außerdem bleiben die Eltern im Lauf eines Lebens nicht die einzigen Vorbilder. Dazu kommen zum Beispiel Geschwister, Gleichaltrige, Lehrerinnen oder fiktive Charaktere. Als Grundlage dafür dient aber die Entwicklung in den ersten Jahren: „Kinder müssen erst einmal lernen, überhaupt zwischen sich und der Umwelt zu differenzieren, also erkennen, dass sie ein eigenes Selbst haben und es darüber hinaus noch andere gibt“, sagt Weiss. „Das passiert etwa zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr. Und erst dann bekommen sie eine Vorstellung davon, dass andere Ziele haben, die nicht unbedingt mit ihren eigenen übereinstimmen.“

Suche nach Bezugspersonen

Im Alter von fünf bis sieben Jahren kommt der nächste Schritt: Dann werden soziale Vergleiche und ein Bewusstsein über soziale Rollenerwartungen wichtig. Dadurch entwickeln Kinder ein abstraktes Konzept ihrer eigenen Persönlichkeit: Wer bin ich? Was habe ich für Werte, was habe ich für Eigenschaften, Ziele, Überzeugungen oder Ideologien? In diesem Kontext suchen sich Kinder neben den Eltern oftmals fiktive Vorbilder: etwa Pippi Langstrumpf, das Sams oder die Eiskönigin Elsa.

Im Jugendalter gehe es dann um die Frage: Wer will ich sein? „Dann werden fiktive Vorbilder ersetzt durch Idole, die es wirklich gibt, Stars zum Beispiel“, sagt Weiss. Daneben werde natürlich die Peergroup extrem wichtig, die ebenfalls einen sehr starken Einfluss haben kann, so der Experte. „Das Entwicklungsziel ist dann, Autonomie zu erreichen, sich von den Eltern auch abzulösen, eine eigene Identität zu entwickeln.“ Allerdings weiterhin auf Basis des elterlichen Einflusses: Denn die Sprösslinge suchen sich ihre Idole zwar selbst aus – bewerten potenzielle Vorbilder aber aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen. Selbst im Erwachsenenalter sind diese meist noch präsent: „Eltern werden wahrscheinlich immer ein Vorbild bleiben“, sagt Weiss.

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