Wende und Neuanfang – Im Licht der letzten Tage der DDR

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Halle/Magdeburg/MZ. – Es ist ein fremdes Land, in das Cordia Schlegelmilch nach fast 40 Jahren zurückkehrt. Der Winter 1989, erinnert sie sich, ist keine besonders gute Zeit, um zu reisen und Neues zu entdecken. Kalt. Trübe. Dunkel. „Als ich in Naumburg Station machte, war die Straßenbeleuchtung dort so spärlich, dass ich instinktiv an die Zeit der Gaslaternen denken musste.“

Schlegelmilch kommt aus dem Westen. Sie ist unterwegs auf einer Reise durch ein verschwindendes Land, in dem sie geboren wurde, das sie aber bis dahin nie hatte kennenlernen dürfen. Mitte der 50er Jahre waren die Eltern der gebürtigen Magdeburgerin in die Bundesrepublik geflüchtet. Cordia Schlegelmilch wächst in München auf. Sie hat die Ermahnungen ihres Vaters im Ohr, der immer warnt: Schon auf der Transitstrecke zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik könnten die DDR-Behörden sie festhalten, um ihn, der als junger Richter eigentlich zu den Stützen des sozialistischen Staates hatte gehören sollen, zu erpressen.

Endlich frei

Doch nun, fast 40 Jahre nachdem ihre Familie die DDR verlassen hat, muss Cordia Schlegelmilch kein flaues Gefühl mehr im Bauch haben. Die Mauer ist weg. Die Angst ist fort. In den Straßen der DDR-Städte, die sie besucht, hängen handgemalte Banner mit Slogans wie „Deutschland, einig Vaterland“ und „Endlich seid ihr da“.

Halle im Licht der letzten Tage
Halle im Licht der letzten Tage

Foto: Cordia Schlegelmilch

Die Freude ist überall groß, wie Schlegelmilch bemerkt. Die studierte Soziologin, eben im Begriff, sich als professionelle Fotografin zu etablieren, will Neuland erkunden, Eine Landschaft am Ende einer Ära. Eine Gesellschaft im Übergang zu Unbekanntem, Unerhörtem, die alle Gewissheiten hinter sich lässt.

Für ihre Expedition in den nahen Osten ist die damals 42-Jährige mit einer Spiegelreflexkamera bewaffnet. Als ihr die Filme ausgehen, kauft sie Orwo-Patronen aus Bitterfeld nach. Eine Förderung durch das Hamburger Reemtsma-Institut lässt ihr Zeit für den ruhigen Blick auf die dahinrasenden Ereignisse. Zwei Jahre lang wird sie den Gang der Dinge im sächsischen Wurzen beobachten, hunderte Gespräche führen, Fotos machen, Lebensläufe erkunden und biografische Brüche begleiten. Am Ende steht eine Langzeitstudie über einen Abschied und die „Ankunft in einer anderen Zeit“, wie Cordia Schlegelmilch ihre Eindrücke genannt hat.

Doch auf Hunderten von Filmen ist noch mehr zu finden. Schlegelmilch hat damals auch in Calbe und Halberstadt fotografiert. Sie hat Bilder in Halle gemacht, als die Stadt noch als „Diva in Grau“ gilt. Und sie hat Naumburg abgelichtet, Zerbst und Oschersleben, Magdeburg und Gardelegen.

Warten auf die Zukunft

Städte, die anmuten, als würden sie auf die Zukunft warten. Die Farben sind blass, und das liegt nicht nur an der analogen Fototechnik. Bunter wird es, wo neue Spruchbänder und alte Propagandatafeln um die Vorherrschaft kämpfen: „Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz für den Frieden“ und „Schöner unsere Städte und Gemeinden − Mach mit“ steht auf den einen. Der Marlboro-Mann, die Einladung „Reisen von Leipzig nach Mallorca“ und der Wunsch „Wir kommen zusammen“ grüßen von den anderen.

Eine Zeit von Ende und Anfang, eingefroren in Straßenszenen, die heute aussehen, wie die DDR für westliche Nasen roch: Nach Kohlequalm und Zweitaktern, nach Broiler und feuchtem Putz. Doch leuchtet aus den Fotos ein Versprechen: Ein Schaufenster in Zerbst preist das Buch „Joint Venture“ neben Computer- und Sex-Magazinen an. Ein Aushang in Gardelegen gibt Tipps für die neue Welt: „Vergleiche die Preise!“

Daneben gehen die Dinge weiterhin ihren sozialistischen Gang. Geschäfte sind wegen Ruhetag, Rekonstruktion oder Wareneingang geschlossen. „An den wenigen Tankstellen musste ich sehr lange warten, es war Mittagspause“, notiert die Besucherin aus dem Westen, die gekommen ist, um zu bleiben. „Hier ticken die Uhren anders“, das wird Cordia Schlegelmilch unterwegs zwischen den Epochen schnell klar, das ist es schließlich, was sie fotografiert. HO-Reklame und Jugendstilvillen, Neubauten und verwitterte Partei-Losungen, Zusammenbruch und Aufbruch, sie überlagern sich im Licht der letzten Tage.

Cordia Schlegelmilch, Endlich seid ihr da! MDV, 144 Seiten, 28 Euro

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