Verhunzung oder Fortschritt? Wie der Sprachkampf Emotionen schürt

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Halle/MZ. – Sprache ist die Grundlage des Zusammenlebens und der Kommunikation der Menschen. Sie ermöglicht es uns, Gedanken und Gefühle zu teilen und miteinander zu interagieren. Über die Zeit entwickelte sich die Sprache immer weiter und passte sich stetig den gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen an. Aus dem „Sopha“ (mit männlichem Artikel) wurde irgendwann „das Sofa“, ein „Bureau“ schreiben wir heute schon lange nicht mehr so, und dass die „Anfurt“ früher mal der Hafen war und ein „Buttervogel“ ein Schmetterling, weiß heute fast niemand mehr.

In den vergangenen Jahren hat insbesondere das Thema Gendern stark an Bedeutung gewonnen und ist inzwischen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent. Einige Fernsehleute, Zeitungsmacher oder Influencer tun es, in Elternbriefen taucht es auf und manche Universitäten verlangen es sogar in studentischen Arbeiten. Andere weigern sich mit Nachdruck, das Gendern einzuführen. Interessant dabei: Kaum ein Schriftsteller gendert.

Auffällig ist allerdings, dass zwar wirklich JEDER eine Meinung zu dem Thema hat. Es polarisiert und lässt praktisch niemanden gleichgültig. Aber die wenigsten haben sich intensiv mit ihren oder den Argumenten der Gegenseite auseinandergesetzt und abgewogen, denn das Thema ist nicht nur emotional hoch aufgeladen, sondern auch äußerst komplex.

Geschichte und Sprache

Die Idee des Genderns ist nicht neu. Sie hat eine lange Geschichte. Eine Analyse alter Texte zeigt, dass es schon im Mittelalter Phasen gab, in denen explizit beide Geschlechter auf Schriftstücken erwähnt wurden (wie „Koufeler“ und „Koufelerin“ für Händler und Händlerin). Schon damals gab es Diskussionen darüber, ob die männliche Form auch für die weibliche stehen kann. So empfahl beispielsweise der Schriftsteller Johann Christoph Gottsched, ein Zeitgenosse Lessings, 1748 in seiner „Grundlegung der deutschen Sprachkunst“, geschlechtsspezifische Bezeichnungen wie „Oberstinn“, „Hauptmännin“ oder „Doctorin“ zu verwenden, wenn Frauen diese Funktion ausüben.

Vor allem aber geht das Gendern auf die Frauenbewegung der 1970er Jahre zurück, als man sich für eine Sprache eingesetzt hat, die Frauen sichtbar machen und ihre Rolle in der Gesellschaft stärken sollte. Beim Gendern geht es seither auch darum, bestimmte Personenbezeichnungen von geschlechtsspezifischen Rollenbildern zu befreien. Ein zentraler Streitpunkt hierbei ist das generische Maskulinum.

Doch was versteht man eigentlich darunter? Zunächst muss man wissen, dass in der deutschen Sprache das grammatische Geschlecht (Genus) und das biologische Geschlecht (Sexus) nicht identisch sind. „Der Löffel“ besitzt einen männlichen Artikel, „die Gabel“ einen weiblichen. Aber es sind Gegenstände. Bei konkreten Personenbezeichnungen im Singular verrät das grammatische Geschlecht hingegen auch oft das biologische – zum Beispiel bei „die Lehrerin“ und „der Lehrer“.

Das generische Maskulinum

In der Pluralform ist das jedoch anders. Spricht man über eine Menschengruppe, die aus Frauen und Männern besteht oder bei der die Geschlechter nicht bekannt sind, wird im Deutschen in den meisten Fällen die grammatikalisch männliche Variante genutzt – das generische Maskulinum. In diesem Fall hat die grammatikalisch männliche Bezeichnung laut Definition wie bei Gegenständen nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun.

Der Grund dafür, dass die männliche und nicht die weibliche Variante genutzt wird, ist hauptsächlich darin verankert, dass in der Vergangenheit vor allem Männer „wichtige Positionen“ in der Gesellschaft einnahmen. Dies war irgendwann auch in der Sprache fest verankert. Noch heute zeigen viele psycholinguistische Studien, dass sich die meisten Menschen bei Sätzen, die im generischen Maskulinum formuliert sind, vor allem Männer vorstellen.

Dies gilt jedoch nicht nur bei stereotypisch männlich besetzten Berufen, sondern auch bei stereotypisch weiblich besetzten Berufen. Es gibt aber auch die andere Position: Manche Wissenschaftler sehen diesen Zusammenhang gar nicht, sondern sagen, wer von „Tischler“ oder „Lehrer“ spricht, sieht in erster Linie den Menschen, der diesen Beruf ausübt, und nicht das Geschlecht von ihm.

Sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern des Genderns werden etliche Argumente dafür oder dagegen genannt. Hier ein Überblick über einige davon.

Argumente der Befürworter

1. Keine Bevorzugung: Die Befürworter meinen, die Sprache, wie sie ist, bevorzuge Männer. Bei Sätzen wie „Die Ingenieure haben alles dafür getan, damit die Astronauten sicher zur Erde zurückkehren“ würde niemand an Frauen denken. Die Denkweise der Menschen soll durch das Gendern also von Vorurteilen befreit werden, um alle Menschen als gleich vertreten wahrzunehmen. Das kann auch Effekte auf die Gleichberechtigung haben. So werden Frauen durch gendergerechte Sprache gedanklich mehr einbezogen, also sichtbarer, was verschiedenste Studien zu dem Thema beweisen.

2. Berufswahl und Arbeitswelt: Eine Studie zeigte, dass sich mehr Frauen als sonst auf einen Job bewerben würden, wenn die Stellenanzeige nicht im generischen Maskulinum verfasst ist und weniger stereotypisch männliche Attribute wie „dominant“ oder „wettbewerbsfähig“ beinhaltet. Tatsächlich bekämen Frauen bei gleicher Qualifizierung den Job mit einer männlich formulierten Stellenanzeige sogar seltener. Übrigens ist die rein männliche Form wegen der Tatsache, dass es auch diverse Menschen gibt, heute nicht mehr zulässig. Noch ein positiver Effekt des Genderns ist, dass sich Mädchen mehr „Männerberufe“ wie Ingenieurin zutrauen und Jungs mehr „Frauenberufe“ wie Krankenpfleger.

3. Inklusion: Da die Gesellschaft nicht nur aus Menschen besteht, die sich als Mann oder Frau definieren, sind Gender-Zeichen eine Möglichkeit, dies sprachlich darzustellen. Selbst wenn es sich um relativ wenige Menschen handelt, wird dadurch die sprachliche Inklusion offener.

4. Gesellschaftliche Entwicklung: In unserer Gesellschaft spielt die Gleichberechtigung eine zunehmend wichtige Rolle. Das Gendern kann somit als Ausdruck dieses gesellschaftlichen Fortschritts auf dem Weg zu einer gleichberechtigten, diversen Gesellschaft verstanden werden.

Argumente der Gegner

1. Fehlender kausaler Zusammenhang: Ob der Einfluss der Sprache auf die Gleichberechtigung oder zum Beispiel der Einfluss von Rollenbildern wie Frauen in den männlich dominierten Berufen mehr wiegt, lässt sich wissenschaftlich nicht eindeutig belegen. Nachgewiesen werden konnte der Zusammenhang noch nicht, dass Sprache ohne Gendern Geschlechterdenken befördert.

2. Mangelnder Zuspruch: Grundsätzlich reagieren wir Menschen auf einen Sprachwandel eher negativ, da wir es oft als irritierend empfinden. Auch zur Einführung der neuen Rechtschreibung gab es große Debatten. Unbekannte Wörter sind für das menschliche Gehirn erstmal anstrengender, weil es zu deren Verarbeitung mehr kognitive Ressourcen benötigt. Beim Gendern sprechen die Zahlen für sich. Auch wenn die Ergebnisse von Umfragen schwanken, die Tendenz ist immer dieselbe: Zwischen zwei Dritteln und um die 90 Prozent der Befragten lehnen das Gendern ab. Doch man muss auch bedenken: Bei zunehmender Verwendung ungewohnter Wörter oder Wendungen gewöhnen wir uns daran. Genauso würde es vielleicht auch beim Gendern sein.

3. „Verhunzung“: Sprache ist etwas Schönes, dagegen wird wohl kaum jemand etwas sagen können. Sie hat etwas Sinnliches. Die Gegner des Genderns sehen hier wohl eines ihrer wichtigsten Argumente: Binnen-I, Doppelpunkte, Schrägstriche, Unterstriche oder Sternchen mitten im Wort verletzen eben genau diese Ästhetik. Dabei gibt es auch hier ein Gegenargument: Solche Sprechpausen, erzeugt durch Binnen-I oder Sternchen, kennen wir schon, sie werden in der Linguistik als „Glottisschlag“ bezeichnet. Beispiele dafür sind „Spiegelei“ oder „überall“.

4. Luxusproblem: Das Gendern ist nach Meinung seiner Gegner ein „Luxusproblem“. Auf der Welt gebe es viel wichtigere Dinge wie Armut, Hunger, Kriege oder einen Mangel an Fachkräften und Ressourcen, um die man sich kümmern müsse.

5. Funktioniert nicht: Gender-Befürworter kommen regelmäßig an sprachliche oder sprachlogische Grenzen. Denn „Studierende“ sind es nur so lange, wie sie es auch gerade tun. Schlafende Studierende gibt es nicht. Formulierungen wie „Der Lehrerin kamen vier Schülerinnen und Schüler entgegen“ lassen uns ratlos zurück, wie viele es denn nun waren. „Der oder die Täter“ lässt sich überhaupt nicht gendern, und wenn es Bürger*innen geben soll, gibt es dann auch eine Bürger*innenmeister*in? Noch komplizierter wird es, wenn noch die Fälle dazukommen.

6. Spaltung der Gesellschaft: Gendern führt laut der Gegner zu einer Abwehrreaktion. Wenn in der Öffentlichkeit öfter gegendert wird, fühlen sich etliche Leute unter Druck gesetzt oder verpflichtet, auch zu gendern – das gefällt vielen nicht und sie wehren sich fast automatisch dagegen. Der Widerstand gegen „neue Regeln“ kann so weit gehen, dass Menschen auch in ihrer Einstellung zu dem jeweiligen Thema extremer werden. Dieses Verhalten heißt in der Psychologie Reaktanz. Kann also die Debatte ums Gendern dazu führen, dass Menschen eine negativere Einstellung zur Gleichberechtigung der Geschlechter entwickeln? Dazu gibt es von der Wissenschaft noch keine klare Antwort. Ein weiterer Einwand ist die Überbetonung des Geschlechts durch das Gendern – insbesondere in Situationen, in denen es gar keine Rolle spielt.

7. Kompliziert: Menschen, die als Ausländer zu uns kommen und Deutsch lernen, oder solche, die wegen Einschränkungen auf leichte Sprache angewiesen sind, werden durch gegenderte Sprache auf eine neue, wenn auch ungewollte Art diskriminiert – denn diese ist für sie viel schwieriger zu verstehen als „Normalsprache“.

Was machen wir jetzt damit?

Kurz zusammengefasst, zeigt die Forschung, dass Gendern positive Effekte haben kann. Allerdings ist es naiv, zu glauben, dass das der einzige Schritt wäre, der die Gleichberechtigung der Geschlechter ermöglicht. Jedoch beeinflusst die Art und Weise, wie wir sprechen, auch, wie wir die Welt wahrnehmen – und somit hat Gendern zumindest das Potenzial, die Gleichberechtigung voranzutreiben.

Doch ist die Vielfalt bei den Formen des Genderns sehr groß. Ob sich die Feminisierung, Neutralisierung oder Gender-Zeichen (siehe Grafik) durchsetzen sollten oder nichts davon, ist noch umstritten. Trotzdem hat die Wissenschaft erste Ideen: Es wäre demnach sinnvoll, abhängig vom Kontext zu gendern. Neutrale Formen könnten immer dann genutzt werden, wenn das Geschlecht keine Rolle spielt, beispielsweise in Gesetzestexten. Zum anderen gibt es vor allem im Kontext der Berufe gute Gründe für das direkte Ansprechen beider Geschlechter, etwa bei Stellenausschreibungen oder der Vermittlung von Berufsbildern an Kinder.

Die Wissenschaft kann zwar die Effekte von Sprache untersuchen und daraus Empfehlungen ableiten, aber ob sich diese im Sprachgebrauch durchsetzen, entscheidet am Ende die breite Masse der Bevölkerung – also wir selbst. So war es schon immer und so wird es immer sein.

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