Legende Lenin – Wie die Revolution ihren Vater fraß

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Moskau/MZ. – Wie viel genau er in seinen letzten düsteren Stunden noch bewusst mitbekam, wird für immer im Dunkel der Geschichte bleiben. Aktenkundig ist nur, dass Wladimir Iljitsch Lenin, in jenen Januartagen vor hundert Jahren nominell immer noch Vorsitzender der kommunistischen Partei der Sowjetunion und zugleich deren Staats- und Regierungschef, an seinem letzten Morgen zum Frühstück Bouillon serviert bekam und einen Kaffee trank.

Es war ein weiterer ganz gewöhnlicher Tag im Sanatorium der Partei-Elite in Gorki, 30 Kilometer von Moskau entfernt. Hier hielt sich der Revolutionsführer seit seinem dritten Schlaganfall ein Jahr zuvor auf. Er war fast vollständig gelähmt und halb taub. 40 Ärzte umsorgten ihn, und sie sorgten auch dafür, dass er weitgehend abgeschnitten nicht nur von allen Zugängen zum politischen Geschäft war, sondern auch zu den meisten Informationsquellen keinen Zugang hatte.

Lenin in Merseburg, 1990: Das Denkmal wurde kurz nach dem Ende der DDR beseitigt.
Lenin in Merseburg, 1990: Das Denkmal wurde kurz nach dem Ende der DDR beseitigt.

Foto: Steffen Könau

Lenin lebt noch, aber er ist eigentlich schon lange tot, bevor er an diesem Montag, den 21. Januar 1924, gegen 16 Uhr einen weiteren Schlaganfall erleidet, ins Koma fällt und kurz vor sieben Uhr abends stirbt. Seine Ärzte mühen sich volle 20 Minuten darum, den Vater der Revolution, den großen Theoretiker des Kommunismus und Helden der Arbeiterklasse zurückzuholen. Dann wird Stalin informiert, der sich sofort aufmacht, seinem Vorgänger als Erster aus der Parteiführung die letzte Ehre zu erweisen.

Lenin kurz vor seinem Tod: Vom Krankenlager aus warnte er vor Stalin, doch ohne Erfolg. Den Rollstuhl, den ihm englische Arbeiter gespendet hatten, konnte der einst allmächtige Führer der Sowjetunion nie bedienen.
Lenin kurz vor seinem Tod: Vom Krankenlager aus warnte er vor Stalin, doch ohne Erfolg. Den Rollstuhl, den ihm englische Arbeiter gespendet hatten, konnte der einst allmächtige Führer der Sowjetunion nie bedienen.

Foto: Steffen Könau

Die Trauer bei Stalin, von Lenin selbst als Generalsekretär der KPdSU inthronisiert, dürfte sich in Grenzen gehalten haben: Geschickt hatte sich der Chef des Parteiapparates in den Jahren des sich beschleunigenden Verfalls der Leninschen Gesundheit selbst zum führenden Genossen aufgebaut. Zwar gibt es neben ihm noch Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, dazu auch Leo Trotzki, den viele im Land für den klügsten Kommunisten überhaupt und den einzig würdigen Lenin-Nachfolger halten.

Im Schatten des Idols

Doch „der Stählerne“, wie sich Josef Dschugaschwili nennen lässt, zieht die Stricke, er arbeitet im Schatten des großen Lenin auf seine Zeit hin. Als der Mann, der ihn in die Parteispitze geholt hat, um Gift bittet, um sein Leben zu beenden, lehnt Stalin ab. Als er sich über kaputte Telefone beschwert, die ihn hindern, vom Krankenbett aus mitzuregieren, entschuldigt Stalin das mit „technischen Problemen“. Und als langsam klar wird, dass Lenin nie mehr zurückkehrt, höhnt der Nachfolger: „Lenin kaputt!“ Seinen schärfsten Rivalen Trotzki manövriert der neue Chef im Kreml aus, indem er ihm den falschen Beerdigungstermin mitteilt.

100 Jahre nach Lenins Tod erinnern in Moskau zahllose Gedenktafeln an den vermeintlich gewaltfreien Revolutionsführer.
100 Jahre nach Lenins Tod erinnern in Moskau zahllose Gedenktafeln an den vermeintlich gewaltfreien Revolutionsführer.

Foto: Steffen Könau

Vergebliche Warnung vor Stalin

Alles Licht, das der Name Lenin im Sowjetreich ausstrahlt, fällt so ausgerechnet auf den Mann, vor dem der Revolutionsführer seine Genossen zweimal hatte warnen wollen. „Genosse Stalin hat eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen“, schrieb Lenin schon 1922. Ein Jahr vor seinem Tod diktiert er in seinem politischen Vermächtnis sogar die klare Anweisung, den Posten des Generalsekretärs neu zu vergeben: „Stalin ist zu rücksichtslos, darum schlage ich den Genossen vor, einen Weg zu finden, Stalin von dieser Stellung zu entfernen.“

Lenins Zeit aber ist schon vorbei, keine sieben Jahre nach seiner abenteuerlichen Reise aus der Schweiz über den halleschen Hauptbahnhof Richtung Finnland und weiter über die Grenze und nach Petrograd. In einem verplombtem Zug hatte die Regierung des Deutschen Reiches den im Schweizer Exil lebenden Kommunisten durchreisen lassen. Mit klarem Kalkül: Würde Lenin in Russland für Unruhe sorgen, könnte das dem Zarenreich womöglich ausreichend Schaden zufügen, um Deutschland an der Ostfront siegen zu lassen. Dann würden Truppen frei, um die Alliierten im Westen noch einmal anzugreifen.

Flohmarkt in Moskau: Der Mann, der warnte, und der Mann, vor dem gewanrt wurde.
Flohmarkt in Moskau: Der Mann, der warnte, und der Mann, vor dem gewanrt wurde.

Foto: Steffen Könau

Die Revolution frisst ihren Vater

Der Plan geht auf. Im April 1917 dampft Lenins Zug durch das Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt. Ein halbes Jahr später ist Lenin Vorsitzender des neuen „Rates der Volkskommissare“ und damit faktisch russischer Regierungschef. Im März 1918 schließt er Frieden mit Deutschland. Im August wird er Opfer des von einer Frau, die sich als „Sozialrevolutionärin“ bezeichnet, begangenen Attentates, dessen Folgen ihn schließlich das Leben kosten werden.

Die Revolution frisst ihren Vater, einen Mann, der einer halb gutbürgerlichen, halb aristokratischen Familie entstammt. Erst als sein älterer Bruder Alexander hingerichtet wird, weil er sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen hatte, die seinen Namensvetter Zar Alexander III. hatte ermorden wollen, radikalisiert sich der gerade 17-Jährige.

Wladimir Uljanow liest Bücher über die klassenlose Gesellschaft, beteiligt sich an Studentenprotesten und er lebt nach seiner Exmatrikulation auf dem Gut der Familie, versorgt durch das väterliche Vermögen. Während er Marx liest, vom Sozialismus träumt und Pläne für eine soziale Revolution schmiedet, achtet er darauf, dass davon genug übrig bleibt. Selbst als Russland unter einer Hungersnot leidet, lässt er seinen Pächtern keinen Rubel der Pachtsumme nach.

Über Halle fuhr Lenin Richtung Skandinavien, in Petrograd empfingen ihn - so zumindest erzählt dieses Gemälde die Geschichte - begeisterte Arbeiter und Soldaten.
Über Halle fuhr Lenin Richtung Skandinavien, in Petrograd empfingen ihn – so zumindest erzählt dieses Gemälde die Geschichte – begeisterte Arbeiter und Soldaten.

Repro: Steffen Könau

Reise ins Ungewisse

Lenin ist 35, als er verhaftet wird. Er landet in Untersuchungshaft und wird nach Sibirien verbannt. Um weiterarbeiten zu können, geht er danach ins Exil. In München entwirft er das Konzept einer Kaderpartei aus Berufsrevolutionären, die die Massen führen und ihre Gegner mit Terror bekämpfen sollen, bis eine Diktatur des Proletariats errichtet ist.

Die lange Fahrt zurück nach Hause, die Lenin 1917 antritt, ist eine Reise ins Ungewisse. Ob ihn in Petrograd Jubel, Gefängnis oder der Tod erwartet, weiß Lenin nicht. Seine Überzeugung, dass in Russland eine revolutionäre Situation nur auf den richtigen Führer wartet, ist nur Hoffnung.

Schon unterwegs aber führt der kommende Staatsgründer ein hartes Regiment. Um Feiern samt Alkoholgenuss unter den mitreisenden Revolutionären zu unterbinden, legt er feste Schlafenszeiten als „revolutionäre Pflicht“ fest. Es gibt Klo-Karten 2. und 1. Klasse: Die einen berechtigen nur dazu, einem dringenden Bedürfnis nachzugehen. Die anderen gestatten es, dabei zu rauchen.

Der unumschränkte Führer

Auch als unumschränkter Führer seiner Sowjetunion ist Lenin keineswegs nur der bescheidene Theoretiker und kommunistische Intellektuelle, zu den ihn die spätere sowjetische Geschichtsschreibung verklärt. Er lässt Kirchen ausrauben, Geistliche erschießen und Hunderttausende verhungern, weil „der Bauer ein wenig Hunger leiden“ müsse, „um die Städte vor dem Verhungern zu bewahren“. Widerspruch duldet er nicht. Widerspruch ist „Fraktionsbildung“, mithin Verrat. Der „demokratische Zentralismus“ besteht darin, dass allein Lenins Wort gilt.

Schon in den 30er Jahren hatte Stalin seinen toten Vorgänger zu einem Symbol gemacht.
Schon in den 30er Jahren hatte Stalin seinen toten Vorgänger zu einem Symbol gemacht.

Foto: Steffen Könau

Mit dem Tod des pflegebedürftigen Revolutionshelden, der seine letzten Monate auf Stalins Geheiß hin in strenger Abschottung und ohne politischen Einfluss verbringen muss, überträgt sich diese unbeschränkte Macht ausgerechnet auf den Mann, vor dem Lenin in seinem Testament so eindringlich gewarnt hat.

Stalin, acht Jahre jünger und von noch weniger Gewissen geplagt, lässt den Körper des Toten aufschneiden, um der „materiellen Basis des unsterblichen Genies“ auf die Spur zu kommen. Ein schlüssiges Ergebnis wurde nicht ermittelt, doch mit der Ausstellung des einbalsamierten Leichnams im Mausoleum an der Kreml-Mauer kann Lenin werden, was er für viele Russen bis heute ist: Eine Legende, die als Symbol für etwas steht, das es nie gegeben hat.

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